Grenzen überwinden – Freiraum für Kunst
von Silke Detlefsen
Wer Freude an künstlerischem Schaffen hat, ist an der Schlei-Akademie genau richtig. Menschen mit und ohne Behinderung sind hier dazu eingeladen, sich gleichberechtigt und frei zu entfalten. Vom 6. bis 31. Juli werden rund 300 Studienplätze geboten – in mehr als 40 Kursen.
Kunst als bildende Kraft einer inklusiven Gesellschaft ist das Leitbild der Schlei-Akademie in Sundsacker in Schleswig-Holstein – nur wenige Kilometer von der Ostsee entfernt. Das inklusive Konzept, Barrieren abzubauen und jedem, ob mit oder ohne Behinderung, die gleichen Chancen auf freien künstlerischen Ausdruck zu geben, ist bundesweit einmalig. Von der Idee bis zu ersten Umsetzung erarbeitet hat es die Kunsthistorikerin Dr. Christina Kohla. Sie hat in Berlin studiert, lebt seit vielen Jahren in der Nähe von Kappeln und promovierte über die Flensburger Künstlerin Käte Lassen. Sie beschäftigt sich schon lange mit Frauen-Forschung und dem Thema Exklusion von Frauen in der Kunstgeschichte. „Das reicht sogar noch bis in die 1990er- und 2000er-Jahre, dass Frauen als bildende Künstlerinnen nicht sichtbar waren und an den Rand gedrängt wurden.“ Nicht von ungefähr liegt es Kohla so am Herzen, dass sich heutzutage alle kunstbegeisterten Menschen unabhängig von Herkunft, Weltanschauung oder Beeinträchtigung im gemeinsamen, künstlerischen Arbeiten begegnen können. Es geht ihr darum, ein- statt auszuschließen und tatsächlich allen Interessierten „Freiraum für Kunst“ ohne Barrieren zu ermöglichen.
Begegnung auf Augenhöhe
Bereits 2015 wurde die Gründung der Sommerakademie mit einem inklusiven Leitbild angeschoben. „Eine wichtige Rolle spielte hierbei Stefan Lenz, Geschäftsführer vom St. Nicolaiheim Sundsacker e.V.“, erläutert Kohla: „Dieser gemeinnützige Verein, in dessen Mittelpunkt der Mensch mit seinem Wunsch nach Leben, Lernen und Arbeiten steht, ist mit seinen Werkstätten eine wichtige Einrichtung in der Region und ständig in Bewegung.“ Und so kam es, dass sich Kohla zunächst auf die Recherche nach vergleichbaren Formaten begab. Sie besuchte Galerien und Ateliers wie Blaumeier – ein Kunstobjekt von Menschen mit und ohne Behinderung in Bremen – und tauschte sich etwa mit den Sozialhelden oder Ohrenkuss aus, ein Kulturmagazin, das von Menschen mit Down-Syndrom gemacht wird: „Ich wollte wissen, wie sie ihre Projekte angehen. Im Bereich von Theater und Tanz zum Beispiel war das zu diesem Zeitpunkt alles bereits viel offener. Der Bereich der bildenden Kunst aber war wieder einmal später dran.“
Mit der „Aktion Mensch“ als Unterstützer war es Kohla von Anfang an wichtig, dass man stets auf Augenhöhe miteinander umgeht und flexibel auf die Bedürfnisse aller Teilnehmer reagiert. „So braucht man nicht etwa per se einen Gebärdendolmetscher für alle Veranstaltungen. Mittlerweile weiß ich, dass viele die speziellen Dinge, die sie für sich benötigen, selber mitbringen. Aber wir halten zum Beispiel Staffeleien in verschiedensten Formaten bereit und sorgen dafür, dass sie sich leicht verrücken lassen. Wir haben die unterschiedlichsten Pinsellängen im Angebot, können auf vieles individuell reagieren und schaffen so eine gute technische Infrastruktur.“ So kann es helfen, eine Staffelei einfach mal schnell mit einer Schraubzwinge festzumachen. Was genau der einzelne Teilnehmer bei einer Einschränkung unterstützend benötigt, kann er im Vorfeld mitteilen.
Alles frei von Hindernissen
Außer Frage, dass auch die Atelierräume barrierefrei sind. Seit ihrer Erstauflage im Jahr 2018 findet die Schlei-Akademie in der Albert-Schweitzer-Schule in Sundsacker statt, in die sonst Kinder mit schweren Mehrfach-Behinderungen gehen. In den Sommerferien werden Klassenräume, Werkstatt und Turnhalle als Atelier-, Ausstellungs-, Gemeinschafts- und Rückzugsräume eingerichtet, die allen großzügig Platz bieten. Es gibt einen Fahrstuhl sowie behindertengerechte Waschräume und Toiletten. Auf Wunsch stehen auch Fahrdienste und Mobilitätshilfen zur Verfügung. Für die Verpflegung mit Getränken, kleineren Gerichten und einem täglichen Mittagessen ist ebenfalls gesorgt. Kohla hofft, dass sich in diesem Juli noch mehr Menschen mit Handicap für die Akademie interessieren. „2018 war es tatsächlich so, dass sich zehn Menschen mit Einschränkungen zunächst gar nicht geoutet haben und sich nicht getraut haben, darüber zu sprechen, wie wir hinterher herausgefunden haben.“ Daher möchte sie aktuell verstärkt dazu beitragen, noch mehr Hemmschwellen abzubauen. „Zu uns kommen Menschen nach einem Schlaganfall, im Rollstuhl, mit geistigen Behinderungen, Suchterkrankungen, psychischen Problemen oder auch Angstzuständen. Eine Teilnehmerin litt etwa unter Alopezie und hat sich wahnsinnig für ihren Haarausfall geschämt. Am Ende hat sie sich so wohlgefühlt, dass sie ihre Perücke einfach abgelegt hat.“ Eine schöne Bestätigung für Kohla und ihr Team, wie auch das sonstige Feedback, das sie im Anschluss stets erfragt. Da loben die Besucher etwa die inspirierende und individuelle Atmosphäre, die Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft untereinander, die Professionalität der Dozenten oder die schöne und idyllische Lage. Die Durchmischung der Gruppen, die experimentellen Möglichkeiten in den Kursen und die liebevolle und zugleich kompetente Betreuung durch den Veranstalter werden ebenfalls hervorgehoben.
Jeder steht als Individuum im Fokus
Tatsächlich ist es auch die individuelle Zuwendung und Betrachtung, auf die Kohla besonders viel Wert legt: „Ich bin in diesen Wochen immer vor Ort und ständig erreichbar. Mit meinem Hausboot, auf dem ich währenddessen wohne, liege ich an der Schlei direkt am Gelände und bin für alle Belange jederzeit gerne ansprechbar.“
Und welches Kursangebot erwartet die Interessenten in diesem Sommer? Das reicht von freier, abstrakter Malerei über Farbholzschnitt, Abenteuer Tusche, Urban Sketching, Pinchtechnik und Rauchbrand, Porträt zeichnen, Akt modellieren, Holzbildhauerei und Kalligrafie bis hin zu digitaler Malerei mit dem Corel Painter, freier Ölmalerei, Keramik und Fotografie, um nur eine Auswahl zu nennen. Bei einem näheren Blick auf die Veranstaltungsübersicht dürfte für nahezu jeden Kunstinteressierten, der sich selbst einmal versuchen möchte, etwas Passendes dabei sein.
Faszination „Digital Painting“
Als Dr. Christina Kohla den Referenten Horst Rosenberger (www.hope-rosenberger.de) im letzten Jahr telefonisch fragte, ob er an der Schlei-Akadamie einen Kurs „Digitale Malerei“ halten würde, war dieser zunächst skeptisch. Aber die Organisatorin hat sich nicht abwimmeln lassen, sondern Rosenberger in seiner Heimat Berlin besucht. „Da hat sie mir von ihrem Projekt erzählt und so viel Begeisterung ausgestrahlt, dass ich gedacht habe: Sie hat Recht, ich muss das machen.“ Rosenberger sitzt im Rollstuhl und hat Kinderlähmung. Ein „Computer-Nerd“ war er schon immer. Zur Malerei kam er über ein Geschenk seiner Frau: ein Wochenendkurs bei einer Künstlerin als Ausgleich zum Beruf. Von dieser Erfahrung angeregt hat er sich über Jahre mit Grundlagen des Malens vertraut gemacht und zunächst in Pastelltechnik gearbeitet. Irgendwann wurde er dann bei der Vorbereitung auf eine seiner Multi-Media-Shows über seine Reisen auf ein Bild im Internet aufmerksam, das englischsprachig als „digital gemalt“ bezeichnet wurde. „In Deutschland gab's das damals noch gar nicht. Also habe ich neugierig angefangen zu suchen und bin auf amerikanische, französische und japanische Seiten gestoßen. Dann habe ich entdeckt, dass es sogar eine spezielle Mal-Software gibt. Ich habe sie gekauft und angefangen zu experimentieren.“
Zuerst hat er Fotos verändert, dann Motive, die er von seinen Reisen im Kopf hatte, digital gemalt. Er begrüßt es, dass man für diese Technik nichts weiter als einen Computer, ein Tableau und die passende Software benötigt. „Das kann man einfach überall mit hinnehmen – auch auf eine Rolli-Tour. Zudem kann ich mit dem Computer ganz viele Versuche wagen, verschiedene Dinge ausprobieren, ohne dass ich Blattstapel erzeuge.“ Per Knopfdruck lässt sich etwa entscheiden, ob in Öl oder Acryl gemalt werden soll. Da Rosenberger unter einem Post-Polio-Syndrom leidet, seine Behinderung weiter fortschreitet und immer mehr Muskeln – zuletzt an den Armen – in Mitleidenschaft gezogen werden, kommt ihm das digitale Malen auch in dieser Hinsicht entgegen. „Wenn bestimmte Sachen wirken sollen, brauchen Sie eine entsprechende Größe der Leinwand. Das wirkt sonst fisselig. Ein Bild von ein mal ein Meter – das könnte ich nicht mehr machen. Da würde ich die Lust verlieren, weil meine Hände nach zehn Minuten erlahmen würden. Mein Tableau dagegen kann ich problemlos bedienen. Die Hand ist ja aufgestützt.“ Deshalb findet Rosenberger, dass die digitale Malerei auch gerade Menschen mit Handicap ungeahnte Möglichkeiten bietet – Dinge, die sie sonst nicht tun könnten: „Egal ob sie schon immer behindert waren oder eingeschränkt wurden, etwa durch einen Schlaganfall.“
Einen solchen erlitt Michael Sagel 1996 und ist seither Rollstuhlfahrer. Zudem hat er Ataxie: „Meine komplette Motorik ist aus dem Takt geraten“, erzählt er. Ich habe zwar mittlerweile wieder Kontrolle über meine Bewegungen, aber noch immer nicht so, wie es wünschenswert oder manchmal auch notwendig ist“. Mit Kunst hat sich Sagel (www.msagel.de) schon immer beschäftigt und durch den Schlaganfall und die Ataxie die jetzige Art seines Bildermachens entwickelt. Er hat im letzten Sommer Rosenbergers Kurs an der Schlei-Akademie belegt: „Die Atmosphäre war super: eine sehr gelungene Mischung aus lockerem Umgang miteinander und konzentriertem Arbeiten. Mein Handicap ist insbesondere im Kurs selbst berücksichtigt worden, trotzdem habe ich eigentlich nie das Gefühl gehabt, als ‚Behinderter' dort zu sein.“
Er, der bereits Erfahrungen mit digitalen Techniken hatte, hatte sich von dem Kurs eine Horizonterweiterung versprochen. „Und diese Erwartung ist voll erfüllt worden. Ich finde die digitale Malerei gerade für Leute, die ein ähnliches Handicap wie ich haben, sehr gut geeignet, ihre Vorstellungen in ein Bild umzusetzen. Mit analogen Mitteln kann das manchmal fast unmöglich sein.“ Rosenberger hat den Kurs-Teilnehmer, wie er erzählt, „sein ganz anderes Selbstporträt machen lassen. Und das ist so toll geworden. Das hat alle erstaunt. Aber Michael Sagel ist eben ein Fotokünstler. Und er ist gewillt, Dinge zu interpretieren und aus seinen Möglichkeiten etwas zu machen.“ Aber keine Bange: Wer sich für „Digital Painting“ entscheidet, muss lediglich mit dem Rechner umgehen können und keinesfalls Computer-Profi sein. Den künstlerisch-technischen Aspekt vermittelt Rosenberger in einem harmonischen Mix aus kleinen Mini-Vorlesungen und kreativen Praxis-Einheiten. Sein Ziel ist, dass am Ende jeder zwei bis drei fertige Bilder hat. Und er wird auch in dieser Akademie-Saison wieder unterrichten: „Denn die Leute, die sich zu einem solchen Kurs anmelden sind wild – und wollen. Und auch Christina Kohla brennt für das, was sie tut. Sie zieht dann andere mit – und das erzeugt ein Klima, in dem man über sich hinauswächst“. Das klingt doch nach Erfolgserlebnissen, die man sich als Kunstschaffender keinesfalls entgehen lassen sollte!